11 DECEMBER 1936, Page 16

[Von einem deutschen Korrespondenten] Ars man dem Wiener Biirgermeister Karl

Lueger, dem Vater des osterreichischen Antisemitismus einmal semen auffiilligen Umgang mit Judea vorwarf, enviderte er semen Kritikern einfach : " Wer ein Jude ist, das bestimme ich."

Nicht nur Herr Hitler, auch sein getreuester Jiinger, der Herr Reichspropagandaministes Goebbels haben von Lueger

gelernt. Wer em n Kanstler, war em n Kritiker ist, das bestinunt Goebbels. Da aber weder Kiinstler noch Kritiker freiwillig auf ihr Recht, eine Meinung zu haben, verzichten, so untersagt Hitlers Propagandist mit den Mitteln der Macht jede Kritik. . Kritik in Deutschland ist verboten.

Kritik ausserhalb Deutschlands ..ist Bolschewismus.

Es gibt verschiedene Forme,n der Kritik. Man karat zum Beispiel politische Massnahmen kritisieren. Das ist in Deutschland seit vier Jahren fast unmOglich. Keine Zeitung darf es wagen, irgend ein laitisches Wort gegen das Gottesgna- dentum der deutschen Fiihrer zu sagen. Thicht sich die Kritik dennoch Balm, so wird sic in schweren Fallen als " Landes- verrat " mit dem Bell, in leichteren Fallen als "Meckerei" mit Zuchthaus, Konzentrationslager, Entlassung etc bestraft. Nebel.' der Kritik an politischen, juristischen, wirtschaftlichen Massnahmen gab es aber auch bisher eine Kritik an kulturellen und kanstlerischen Dingen. her gab es bisher so etwas wie em Ventil, durch das sich die kochende Unzufriedenheit einen Ausweg verschaffte. Nun wird auch dieses Ventil amtlich vernagelt. Per Kessel so// explodieren.

Also sprach Goebbels: "Dim auch das Jahr 1936 keine befriedigende Besserung der Kunstkritik gebracht hat, untersage ich mit dem heutigen Tage endgilltig die Welter- fiihrung der Kunstkritik in der bisherigen Form."

Zur Begrandtmg des Verbotes der Kunstkritik, die ja nur ein Symbol der Kritik ilberhaupt ist—denn wo in Deutschland des letzten Jahrviertels gab oder gibt es so etwas wie Kunst ?- wird em n grasser Aufmarsch von Anklagern und Zeugen arran- giert. Herr Goebbels, ein Meister grosser Paraden, fordert Ami in Arm mit Herrn Ley, dem Fahrer zur "Kraft durch Freude," mid einem bisher unbekannten Ministerialrat Alfred Ingemar Berndt sein Jahrhundert in die Schranken. Dieser Herr Berndt fiihrt das Team aller grossen Deutschen von Lessing, Herder, Goethe, Schiller, Kleist, Schlegel, Tieck, Brentano, Freytag, Ludwig, Fontane gegen die " Juden- jungen " Heine, Borne, Lindau, Blumenthal, Brahm, Harden, Kerr, Jacobsolm, Hollander, Speidel, Hanslick. Dims Match, " Kanstler gegen Kritiker," organisiert von den Herren Goebbels und Berndt, wird natiirlich von den Kiinstlern turm- hoch mit vielen Punk-ten gewonnen. "Em Schlachten wars, nicht eine Schlacht zu nennen," so hat es schon Schiller in der

Jungfrau von Orleans" voralmend genannt.

Aber, urn noclunals Schiller zu bemiihen, "Ernst ist das Leben, heiter die Kunst." Leider stinunt and' das nicht rnehr. Penn die Kunst ist gar nicht mehr heiter. Sic hat sich .ver- krochen und wartet auf besseres Wetter. Oder sic wanderte aus, um in der Emigration das Brot der Fremde' mit Tanen zu essen. Oder, urn in der bluanigen Sprache des Kiinstlers Goebbels zu rede,n : "Die grossen Genies1 die in aufwithlenden Versen, Bildern und 'Tanen dieser Zest ihr kiinstlerisches Gesicht aufpriigen, sind noch nicht dim. Aber sic warden kommen, wean ihre Stunde kommt." Und wenn sic wirklich kiimen, dann erwartete sic der Maulkorb des Herm Goebbels oder das Schicksal der Dichter Th. Lessing und Miihsam oder .die Ausbiirgerung, wie sic, gegen alle grossen unabhangigen Geist,er Deutschlands exekutiert wird.

Es ist em n grosses Problem, das heute in Deutschland die gegenwartig noch herrschenden Machthaber. beschaftigt. Was geschieht mit der Opposition ? Seheinbar stehen ja nur• " zwei ". Prozent gegen den Fiihrer. Aber Tatsache ist, dass .jedes zweite Wort der Fiihrer sich mit der Opposition befasst. 'lane Zeit lang tarnie sich diese Opposition in Form der 'Kritik. Selbst der Diimmste in Deutschland konnte der

• Kritiken feststellen, dass etwas faulim Staate sein miisse, der iiberhaupt keine einzige kiinstlerische positive Leistung hervor- bringen konnte. Ob der Diimniste dadurch welter dunun ,bleibt, dass er keine Kritik ruehr zu lesen bekommt. Oder oh er nicht vielleicht auf einmal sethst zu denken, sich seine • , eigene Kritik zu schaffen beginnen wird.