13 APRIL 1934, Page 13

TANTE VOSS 1ST TOT!

[VON EINEM DEUTSCHEN BORRESPONDENTEN]

MIT dem Tode der Tante Voss, wie die " Vossische Zeitung" allgemein genannt wurde, ist, wie wir bereits beriehtet haben, eines der iiltesten Kulturdenk- mailer Deutsehlands verschwunden. Es mag vielleicht seltsam kfingen, aber trotzdem ist es wahr, dass die alte Dame, die das imposante Alter von 230 'Jahren crreicht hatte, nicht an Alterschwiiche, sondem an Unterernah- rung zugrunde gegangen ist. Allerdings an einer geis- tigen Aushungerung. Penn im dritten Reich ist für jcne Form der Kultur, die erst die Existenz ciner unab- hingigen Presse ermoglicht, keine AtmosphEire.

Ala im Jahre 1704, etwa zur Zeit Elisabeths, der aus Heidelberg stammende Buchhiindler Michael Rildiger die Erlaubnis zur Herausgabe einer Zeitung erhielt, war die " Voss " einen halben Bogen im Quartformat gross und erschien als Diarium in gewissen Abstanden. Unter Andreas Rildiger erschien das Blatt, das berichtete, "was im Heiligen Romischen Reich passiert," dreimal wochent- lich als "Berliner Privilegierte Zeitung." Rildigers Schwiegersohn Christian Voss leitete die Zeitung ab 1750 etwa vierzig Jahre lang, also das gauze friderizi- anische Zeitalter bis zur franztisischen Revolution. Damals schrieb Deutschlands grosster Journalist Gott- hold Ephraim Lessing im Feuilleton fiber die " Gelehrten Sachen." Lessings Bedeutung, die im kritischen lag, die allen Dingen-zwischen Kunst, Philosophic, Politik und Religion gerecht wurde, soil hier nicht weiter untersucht werden. Die Arbeit dieses deutschen Voltaire drilekte Generationen ihren Stempel auf. Seitdem blieb die Familie Lessing durch den jtingeren Bruder des Dichters rumens Karl Gotthelf—der Vossens Schwiegersohn und Teilhaber wurde, der Zeitung verbunden. Karl Robert Lessing leitete die " Voss " fast ein halbcs Jahrhundert lang und stand dem Blatte ini Jubildumsjahre 1904 vor. Zehn Jahre spater, Tante Voss war inzwisehen 210 Jahre alt geworden, iibernahni Deutschlands grosster Zeitungs- verlag, das Haus Ullstein, die " Vossische Zeitung," die von Personlichkeiten wie Georg Bernhard und Alfred Klaar geschrieben und betreut wurde. Hatte Tante Voss vor dem Kriege eine Atiflage von 25,000 Exemplaren, so konnte sie Ullstein auf das dreifache, etwa 80,000 steigern. Sic war in dieser Zeit ein Kulturfaktor ersten Ranges, ihr Feuilleton-Teil, untcr 'Wiegler und Marholz, ihre Gerichts- saalberichte untcr Sling, dem Brudcr Bruno Walters, ihre Musik-Kritiken linter Marschalk mid Weissmann, ihre Kunstkritiken miter Osborn wurden von vielen Tausenden mit Spannung erwartet und diskutiert.

Dann kam Hitler, und I Illstein wurde mit alien anderen 3000 Zeitungen Deutsehlands gleichgesehaltet. Seit einem Jahr ist mindestens em Drittel der deutschen Zeitungen eingegangen. Per Rest vegetiert, trotz des neuen " Reichsverbandes deutscher Zeitungsverleger," trotz alter " Zeitungswissenschaftlicher Seminarc " kiim- merlich dahin. Die letzte Zeitung, die kulturell noch halbwegs ernst zu nehmen ist, die" Frankfurter Zeitung," veroffentlichte einen sensationefien hingen Artikel " Sind wir langweilig ? " zur Krise der Presse. Die " Frank- furter " weiss am besten, dass es nicht die Frage der Langeweile, sondem der moralischen Korruption ist, die das deutsche Zeitungssterben und damit den Kulturtod einer Nation und Generation verursacht.

F. G.