18 FEBRUARY 1938, Page 16

IM OBDACHLOSENASYL

[Von einem deutschen Korrespondenten1 Am Eingang steht nicht der beriihmte Vers von Dante iiber dem H011entor, sondern ein " Kunde," ein Obdachloser, der noch etwas frische Luft atmen will. Denn da drinnen ist nur dicke Luft. Das Berliner stadtische Obdachlosenasyl wird fin Volksmund die " Palme " genannt. Nicht, well dort Pahnen blilhen, sondem aus dem Grunde, well vor dem alten Asyl in der Palisadenstrasse ein Weidenbaum stand, dessen Bliiten, die Weidenkatzchen, auch Palmen genannt werden. Heute ist das Asyl, das noch immer " Palme " heisst, in der Prenzlauer Alice, im Osten der Viermillionenstadt.

Der Besucher muss durch einige dtuilde Wife gehen, bis er in den Aufnahmeraum gelangt. Hier werden die Papiere zum ersten Mal gepriift. Meldezettel, Arbeitsbuch, Stempelkarte, alles muss in Orcinung sein, sonst ffiegt der Besucher gleich hier heraus. Im Zimmer der Kriminalpolizei wird man gepriift, ob man nicht als Verbrecher steckbrieffich gesucht wird. In einem dritten Raum muss man eine Erklarung tmterschreiben, dass man weder bei Verwandten noch Fretmden Obdach gefunden hat, class man mittellos ist, class man nur htichstens vierzehn Tage hier bleiben "will." Sonst komrnt man ins Arbeitshaus.

Nach diesen drei Priffungen bekommt man eine Kette. Daran sind aber keine Fesseln, sondem nur drei Schilde mit Nummern. Mit der Kette geht man in den Entkleidungsraum. Hier zieht man sich mit semen Leidens-und Schlafgefahrten splitternackt aus. Es kommen einige Beamte, die die Kleider sorgfaltig auf animalische Untermieter, Flohe, Lause, Wanzen, unter- suchen. Die untersuchten Kleider kommen in einem Beutel, die Schuhe in einen zweiten ; jeder Sack bekommt ems der Nummemschilde, elm dritte ist morgen bei der Kleider- ausgabe vorzuzeigen.

Die nachste Station ist der Baderaum. Dieselben vierzig Manner werden hier mit grossen warmen Brau,sen abgewaschen. Auch der Fussboden ist gewarmt, damit sich keiner von den Badegasten erkalte. Dann trocknet man sich mit einem Handtuch sorgfaltig ab und darf in den Schlafkittel schlilpfen, der bis zu den Zehen reicht. Auch ein Paar Lederpantoffel werden zur Verffigung gestellt.

Dann geht es in den Ess-Saal. Die vierzig Nachthemdtrager erhalten je eine Schale mit Graupen und Kartoffeln. Die sind schnell mit einem grossen LOffel " verputzt."

Letzte Station ist der Schlafsaal. Ein grosser Raum, vier mal so lang als breit. Je zwei Betten stehen nebeneinander, mit dem Kopfende zur Wand. Die Matratze ist in em n Nessel- laken gehüllt und ruht auf einem Drahtgestell. Der ganze Saal stinkt nach Lysol, das hier taglich aus Gesundheitsgriinden gespritzt wird.

Bis um elf Uhr nachts kommen noch immer Nachziigler. Dann sind alle ffinfundsiebzig Pritschen belegt. Das Licht wird abgedreht, ntr eine schwache blaue Lampe erhellt den dunklen Raum notdiirftig. Manchmal erheben sich welche von ihrem Lager, urn auf die Toilette zu gehen. Es ist ziemlich viel Gerausch hier mm Saale, die Manner husten, scimarchen, stOhnen, sprechen im Schlaf. Manche finden iiberhaupt keinen Schlaf, sic werfen sich unruhig hin und her.

Urn ftinf Uhr friih sind Schlaf und Traum und Unruhe zu Ende. Die Manner erheben sich von ihren Betten und mar- schieren stumpf und noch schlaftrunken in das Esszimmer, wo es Suppe mit Brot gibt. Die Ktiche hat oft Hochbetrieb. An jedem Tag werden durchschnittlich moo() Liter Essen gekocht ; ein Tell wird an andere Volkskiichen geliefert. 220 Zentner Kartoffeln und 40 Zentner Fleisch werden taglich verbraucht. Weihnachten hat 2.500 Hiihnern das Leben gekostet, sie wurden mit Reis verziert, serviert, seziert, diniert.

Das Schlafen im Obdachlosenasyl ist frei. Aber jeder muss am folgenden Tag drei Stunden im Hause arbeiten ; fin jeden findet sich irgend eine Betatigung ; zum Stubenfegen oder Kartoffelschalen ist auch der Diimmste geschickt genug.

Es ist kein schiffier Aufenthaltsort, theses Obdachlosenasyl. Und mancher der Pennbriider wiirde Heber anderswo schlafen ; es miisste ja nicht gleich ein Schloss sein. Doch scion Anatole France wusste, class " das Gesetz in seiner majestatischen Gleichheit Armen wie Reichen verbietet, zu betteln, zu stehlen und unter Briicken zu schlafen."