19 FEBRUARY 1937, Page 17

• BUCHNER

[Von einem deutschen Korrespondenten]

VOR hundert Jahren starben in Europa in einer Woche drei Dichter, die auch ausser der Gleichzeitigkeit litres Todes in ihrem Leben und Schaffen vieles gemeinsam haben. Sic waren politische Dichter, Emigranten, von der Polizei und der Zensur grausam Verfolgte, die Borne, Buchner, Puschkin, die mit ihren gleichalterigen und gleichaitigen englischen Bradem, den Byron, Keats, Shelley den schonen Traum von einer freieren Menschheit getraumt flatten.

Georg Bficlmer, am 17. Oktober, 1813, also am Entschei- dungstage der Volkerschlacht zu Leipzig geboren, stanunt am Darmstadt, wo sein Vater ein angesehencr Arzt war. Georg war der alteste Bruder seiner Geschwister, die alle eine Beriihmtheit erlangt hatten. Luise wurde eine ange- sehene Roznanschriftstellerin und Frauenrechtlerin, Ludwig • verfasste als Arzt und Professor das bertilunte Werk "Kraft mid Stoff," Alexander schrieb als franzosischer Univer- sitatslehrer diverse Romane und Literaturstudien. Sic alle iiberragte aber weit ihr Braider Georg, der fast in alien Dis- ziplinen der Wissenschaft em n friffireifer und frilhvollendtcr • Meister war. Er hatte das Gymnasium zu Darmstadt absol- . viert, Zoologie in Strassburg, Medizin in Giessen studiert. Im Oitober 1836 ging er als Professor an die Ziiricher Univer- sitar mid starb vier _Monate spater, am 19. Februar 1837. Biichner ist nur vierundzwanzig Jahre aft geworden. So musste sein Werk em n Fragment bleiben. Aber auch theses Fragment ist von so einem gewaltigen Ausmass, dass es ihn sowohl in seiner Falle wie in semen Dimensionen zu einem der grOssten Dichter Deutschlands machte. Denn lei keinen ander= ist die Einheit von klassischer, romantischer und politischer Dichtung so vollkommen.

Von der Vielseitigkeit dieses einzigartigen Janglings gibt schon eine kurze Aufziffilung seiner wichtigsten Werke einen Begriff. • Als Historiker schuf Georg Buchner das gewaltige Drama" Dantons Tod," als Psychologe die Novelle "Lenz," als Romantiker das Lustspiel " Leonce mid Lena," als Natural- ist die Tragodie " Wozzek," als Politiker und Jurist das Pamphlet "Der hessische Landbote," als Romanist die ubersetzung von Victor Hugos " Lucr&e Borgia" und "Marie Tudor," als Naturforscher die Abhandlung iiber " Schadelnerven," als Philologe eine " Geschichte der alteren griechischen Philosophic" und als Philosoph ein 'Werk iffier " Cartesius und Spinoza." Neben mid fiber diesem wahrhaft ungeheurem Torso stehen noch die sechzig Briefe an Familie, Braut und Fretmde, in dencn tins der Vulkan eines gliihenden Herzens mid der Weitblick seiner politischen Prognosen inuncr wieder mit Erstaunen und Erschiltterung ergreifen. Wahr- haftig, in ciiesem Jangling Georg Buchner hat die Natur im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts irmerhalb des deutschen Sprachraums eine Personlichkeit von salcularem • Ausmass geschaffen. Nicht einmal heute, nach einem abgesch- lossencn jahrhundert, barmen wir noch richtig das Tempera- ment und die Konsequenzen theses Genies ausschopfen. In den dreissig Seiten des " Lenz " sind Probleme gestaltet, denen die Psychoanalyse bisher nichts gleichwertes an die Seite stellen konnte. Im " Hessischen Landboten " mit semen zwolf Seiten, trotzdem er nur verstinrunelt mid mit Bibclzitaten verfalscht gedruckt wurde, schuf Buchner das erste sozialistische Manifest Deutschlands, vielleicht der Welt. Er griindete in Giessen die " Gesellschaft der Men- schenrechte " und wurde so zum unbekannten Schtipfer mid Vater des Volkerbundes wad der Internationale.

Georg Buchner, in jencm unnachahmlichen Akkord von Geist und Gemiit, von Giite und Gerechtigkeit, zeigt tins den Gipfelpunkt germanischer Genialitiit. Freilich ertrug ihn mid seinesgleichen das Deutschland vor hundert Jahren ebenso wenig wic das Deutschland von Heute. Ware Biichner nicht in die Emigration geflohen, so ware er im Kerker ver- reckt. Jede Zeile seines unbegreiflich hohen Werkes zeugt davon. Es ware ihm kein anderes Schicksal beschieden, wenn er heute miter uns lebte.

Was von ihm blieb ? Em Buch von dreihundert Seiwn. Ein Grabstein in Zurich, auf welchem Herweghs Verse stehn "Bin unvollendet Lied, sinkt er ins Grab. Der Verse schonsten nahm er mit hinab. . . ."

E.G.