22 MARCH 1935, Page 17

Ein Vierteljahrtausend Bach

[Von Einem Deutschen Korrespondenten] AM 21. Mfirz 1685 wurde Deutschland und der ganzen Welt ein Kind geboren, das den Namen Johann Sebastian Bach erhielt. Dieser Bach wurde ein Himmel, der durch die Jahrhunderte hindurch die Welt der Musik kront and erhellt.

Jahrhunderte sind in der Geschichte der Menschheit nur kurze, oft inhaltlose, Zeitabschnitte. Aus den leeren Jahrzehnten seines Jahrhunderts tritt uns plotzlich ein Mensch entgegen, der unsere Sprache spricht, der unser Lied singt. Es ist nicht die Sprache von Martin Luther" Fursten-Deutschland. Es ist die Sprache von Thomas Miinzers Bauern-Deutschland, eine fast vergessene Sprache, die uns Bach wieder zum klingen und tanen gebracht hat. Und die Melodic dieser Sprache wird nicht mehr verklingen, solange es Menschen, solange es menschliche Gemeinschaft, geben wird.

In Eisenach, im Herzen von Deutschland, 1st Bach geboren, der als Zehnjahriger schon Vater und Mutter verlor. Einige Jahre bei einem alteren Bruder in Ohrdruf, ebenfalls hn Lande Thuringen und dann als Sangerknabe und Orgel- spieler in Luneburg am St. Michaels-Chor, in Celle, in Hamburg, wo er die Oper Keisers sieht, in Lubeck, wo er Buxtehude, Komponist und Orgelspieler, erlebt. Der Zwanzigjiihrige kommt an den Hof von Weimar, als Hof konzertmeister. Der Dreissig,jahrig,e wirkt als Kapellmeister beim Herzog von Kothen-Anhalt. Der Vierzigjiihrige landet in Leipzig, wo er als Kantor der Thomas-Schule und Kirchen-Organist, als Vater von elf Solmen und newt Tiichtern Jahre fromm, friedlich und schaffend lebt, urn mit fiinfundsechzig Jahren erblindet, still und ausgebrannt zu verliischen. Seinen Nachlass erben die Sane, die urn zum Teil versehleu- dem, so dass heute nur noeh die Halite seines Werke" vorhanden 1st.

Bach war jahrzehntelang ein fast Vergessener und nur in Fachkreisen gekannt, aber kaum verstanden. Erst die Romantiker, vor allem Felix Mendelsohn, ferner Robert Franz und Robert Schumann, haben Bach fiir sich und damit fiir die Welt entdeckt.

Bachs Werk, soweit es erhalten ist und uns in der Ausgabe von Spitta, die hundert Jahre nach des Meisters Tod zu erscheinen begann, vorliegt, gliedert sich in zwei Teile. Das religiose Werk, sozusagen seine Berufs-Arbeit, die cr fiir seine Liturgic, fiir Chore, Kantaten und Messen schrieb, ist zahlenmassig grosser. Das weltliche Werk, das er haupt- stichlich als Paedagoge schrieb, 1st dank kiinstlerisch starker und filr unsere Zeit wesentlicher. Denn zu diesem gehOren die unverginglichen, unvergessliehen Arbeiten wie des " Wohltemperierte Klavier," die zwei-und dreistimmigen " Inventionen," das " Notenbuchlein " der Anna Magdalena, das " Musikalisehe Opfer " und der hochste Gipfel abend- Ilindischer Musik, die " Kunst der Fuge." Diese Werke, ferner die Matthaus-Passion, die Messe in B minor, die Kretwstab-Kantate, die Aria auf der G Saite, die Branden- burgischen Konzertc sind die reinsten Verkorperungen einer Kunst, die sich nicht dem Him, sondem dem Herzea erschliesst.

Diese Musik 1st die bisher einzige ktinstlerische Leistung des Protestantismus, seine erste und vermutlich auch letzte Tat. Dean als das homozentrische Weltbild der Reformation das theozentrische Weltbild des Katholizismus zu zersetzen und ersetzen begann, da begann dieser Mensch in der Mitts der Welt scut Lied, seine Lust und sein Leid mit eigenen Worten und eignen Town der Mitwelt zu verkiinden. Dieses ist die ungeheure Leistung von Johann Sebastian Bach, dass die Intensitlit seiner Kunst die Gemeinschaft der Heiligen zerbricht und dafiir die Gemeinsehaft der Menschen schafft. Von Bach an beginnt die Welt des Menschen, des glaubigen,

sinnvollen Gliedes einer Gemeinschaft, die alle Lander, alle Klassen und alle Religionen umfasst. Bach ist der Vater der llodeme. Er 1st der Vater der Neuzeit, unserer Zeit. Sin begann, als er die Augen aufschlug. Sie wird dauem, solange

sein Werk Menschen erschiittert, verkiiirt und erzieht.

. pas erste Vierteljahrtausend brachte die Erffillung noch nicht ; miige sic dem zweiten gelingen 1 F. G.