23 DECEMBER 1938, Page 16

REIFES DICHTERTUM

[Von einem deutschen Korrespondenten]

SECHS Jahre " Drittes Reich " haben nicht viel vom deutschen Dichtertum ubrig gelassen. Es wanderten nicht nur die Dichter aus, deren Blutzusammensetzung dem Fiihrer nicht casste. Mit linen erklarten sich auch jene " reinblikigen "- man schamt sich, so ein Wort gebrauchen zu milssen—Dichter solidarisch, denen das Dichten mehr eine Berufung als ein Beruf war. Die Maims, Franks, Becher, Brecht, Jahnn, Kaiser reprasentieren die Ehre der deutschen Literatur im Auslande starker und besser als es die ungliicklichen und geknebelten Gerhart Hauptmann, Hans Carossa, Ricarda Huch im tausendjahrigen Reiche je vermogen.

Auf den Schultern dieser letztgenannten Dichter lastet eine schwere Verantwortung. Sie miissen versuchen, das an der deutschen Sprache wieder gut zu machen—in ihrem Werke, was die derzeitigen Machthaber an ihr siindigen—in ihrer Rede. Sie, die Dichter, sind heute die einzigen, an denen sich die gequaken und gehetzten Menschen aufrichten und trosten konnen. Auf sie, auf ihre Biicher, stiitzen sich die Ermatteten and Verzagten, seitdem die Verkiindung der Wahrheit als Hochverrat lebensgefahrlich wurde und die Chinesische Mauer, gebaut aus Hass, GrOssen-und Verfol-. gungswahn, ein " freies," ach so freies Sklavenvolk von der iibrigen Menschheit abschliesst.

Seit dem Todes Rudolf Bindings, seit dem Verstummea Gerhart Hauptmanns, seit der Flucht der Ricarda Huch in die Historie ist der heute sechzigjahrige Dichter and Arzt Hans Carossa so etwas wie der letzte noch lebende Furst der Dichtung in Deutschland geworden. Man wallfahrt zu ihm wie zu einem Naturwunder, man schwannt von ihm wie von einem Marchenwunder. Hosiannah, ein Dichter ist noch da, der seine " Sprache nicht durch das Sprechen beschmutzt," der keine Kompromisse • schliesst, dem sein Schriftstellertum weder ein entraglicher Handels—und Export- artikel ist noch ein Panegyrikus auf ein System, das seine Totalitat dadurch bewies, dass es im Umkreis seiner Macht alle Kultur total ausrottete. Wenn ein Deutscher im Auslande nach einem heute noch lebenden Vertreter reinen Dichtertums in Nazideutschland gefragt wird, diirfte fast immer die Antwort " Hans Carossa " sein.

Hans Carossa wurde am i5. Dezember 1878 in Tolz in Ober-. bayern geboren, studierte als Sohn eines Arztes ebenfalls Medizin, liens sich darn als praktischer Arzt in Passau nieder, machte den Weltkrieg in Frankreich, Galizien und Rumanien mit und wohnt nun in dem Dorfe Seestetten, nahe von Passau und dicht am Strom seines Lebens, der Donau. .

Arzt und Dichter, ein Doppelberuf, der uns aus der Biographien von Arthur Schnitzler and Alfred Doblin nichts fremdes mehr ist. Ein Dichter muss die Welt mit Röntgen-. augen sehn, wie der Arzt, dem das nicht Sichtbare oft bedeut-. ungsvoller ist als das Sichtbare. Aber er muss auch gestalten konnen, wahrend das Operationsmesser des Arztes zerstoren muss. So vollzieht sich in der oft destruktiven Arbeit des Arztes und der konstruktiven des Dichters eine Synthese, der wir die Verklarung des sterbenden Wien wie auch die Mammutwelt des wildwuchemden Dschungels in Doblins Trilogie verdanken.

Hans Carossa, der jiingste dieser Arztdichter-Zentauren, ist auch der wortkargste. Er hat bisher " nur " acht Bucher veroffentlicht : Der Arzt Gion, die Schicksale Doktor Burgers, Eine Kindheit und Verwandlungen einer Jugend, Fiihrung und Geleit, Geheinmisse des reifen Lebens, Gesarrunelte Gedichte, Tagebuch im Kriege, Wirkungen Goethes in der Gegenwart. Diese Biicher sind im Insel-Verlag erschienen, dem heute letzten fast kompromisslosen Verlag Deutschlands.

Das Werk Carossas wurzelt in seiner Ganze in drei grossen Komplexen, die die Welt des Dichters ausfiillen : die Erleb- nisse der Pubertat, des Krieges, der Landschaft. Des Dichters Starke beruht nicht in der psychologischen Einsicht als viel mehr in der Kraft der Anschauung. Carossa ist ein Augen- mensch ; was er sieht, erlebt and geniesst er =eh, dankbai dem Augenblick, dem er das Erlebnis verdankt. In den Rythrnen, seiner Dichtung rauschen die Wellen seines geliebten Flusses den hymiiischen, himmlischen Weilmachts-Choral " Immer klarer, immer milder, langs des Stroms gebognem Lauf blinken irdische Sternenbilder nun zu himmlischen hinauf."