25 JANUARY 1935, Page 15

Arzt, Denker, Musiker

[Von Einem Deutschen Korrespondenten] DAS Leben Albert Schweitzers, der in diesen Tagen sein sechzigstes Lebensjahr yollendete, ist spannend wie ein

Roman und gewaltig wie eine Fuge von Bach. Kein anderer heute lebender Deutscher verldirpert wie er den Typ des faustischen und genialen Menschen.

Albert Schweitzer ist als Sohn eines Pfarrers am 14. Januar 1875 in einem kleinen Dorfe des Elsass geboren. Von seiner iimseren wie inneren Erscheinung her verkorert er auch das Erbe eines Grenzvolkes ; deutsche und franzdsische Sprach° wie Kultur sind in seiner Person untrennbar verbunden. Per junge Schweitzer studiert in dem nahen Strassburg Theologie und Musik. Das Gottsuchen in der Religion und das Gottverkiinden durch die Musik bilden die Pole seiner unruhigen mid zweifelnden Seele. Er witchst in einer Zeit and in einer Umgebung auf, in der sich der siegestrunkene preussische Militarismus und die kulturelle Hohlheit der Griinderjahre seltsam vermischen. Von der Scholastik and Schematik " eines blost lippenbekennerischen Protestantismus abgestossen, fiiichtet er immer wieder in die reine aber dune Luft Bachischer Musik. Er ist als Theologe and Philosoph kritisch genug, urn nicht die ethische Unerfiilltheit eines rein kiinstlerischen Lebens zu erkennen. So lebt er als Prediger, Orgelbauer and Orgelspieler in der Stadt des jungen Goethe, in Strassburg, im Geist und Sinne des Faust-Monologes " Habe nun ach, Philosophic . . . und leider such Theologie . . studiert . . ."

• Ein gewOhnlicher Zeitungsartikel weckt den D'reissig- jrthrigen zu einem neuen, einem hi heren Leben. Er erfahrt von dem traurigen Leben and Sterben lepra-und malaria- kranker Neger, die im afrikanischen Urwald rettungslos ihrem traurigen Schicksal ausgeliefert sind. Mit der Tatkraft eines Rhodes und mit der Umsicht eines Stanley organisiert der Doktor der Theologie und Musikwissenschaft eine Expedition, die seinem kiinftigen Leben die entscheidende Wendung gibt. Schweitzer studiert Medizin and baut ein pear Jahre spater, als Handwerker and Baumeister mit eigenen Hiinden in Lambarene das erste Urwald-Hospital. Sein bester Kamerad, sein engster Mitarbeiter und Helfer dabei ist seine Frau, die ihm auch als Krankenpflegerin unehtbehrlich wird. Das Geld fiir seine SchOpfung saminelt er in alien Stftdten Europas als Redner and als Orgelspieler. Alles, was er so erwarb, gehOrt seinem Werk im Urwald. Der Krieg liisst des Werk verfallen and entzieht ihn selbst diesem. Aber kaum befreit, beginnt er von neuem. Arzt im Siiden, Dozent im Norden, so erfiillt und krOnt und belohnt sich ein Leben, das in unserer Zeit kaum seinesgleichen hat. In den Pausen zwischen seiner Arzt- und Sammel-Tiitigkeit schreibt der Professor und dreifache Doktor seine Bucher "Kultur und Ethik," " Verfall und Wiedergeburt der Kultur," " Zwischen Wasser and Urwald." Es sind Biicher, die iiber den Erdball gehn, weil sie einfach sind und doch vielsagend, wissen- schaftlich und doch lebendig. Eine seltene Mischung. Per Sechzigjiihrige schreibt jetft an seinem neuen Buch " Welt- philosophie," das heute schon von seiner grossen, Liinder wie Konfessionen umfassenden Gemeinde mit Spannung crwartet wird.

So steht dieser grosse, schwere, breitschultrige Mann vor 'unserem Auge, menschgewordene Gilte und Hilfsbereitschaft. Wen man Albert Schweitzer religiOs erfassen wollte, dann k8nnte man ihn vielleicht einen deutschen Quaker nennen. Jenseits jeder kirchlichen wie religiasen Dogmatik versucht er in seinem Leben das Leben des Menschen Jesus mit-und nachzuleben, wie dieser fliohend vor der Welt in die Wiiste.

Sein politisches Ideal ist ebenso antiliberal wie anti- dogmatisch and diirfte gleicherweise in einem Mystizismus wie Sozialismus wurzeln. Seine GOtter aber sind Bach and Goethe. Beiden, den grossen Symbolen eines tlitigen Lebens, erflillt von Kunst wie von Glauben, ist er verwandt.

Sein Leben—Denken, Heilen, Pflegen, Predigen, Schreiben, Spielen und Tun zugleich—ist unserer Zeit unverlierbares and unbergessbares Vorbild. Dieses Dasein, das von Golgatha zum Kongo uni. von Bach bis zum Malaria-Bazillus reicht, bedeutet in unserer nivellierenden und typisierenden Zeit mehr als eine blosse " Fiihrer "-Existenz. Und die achtzehn Bande dieses Entwicklung sind mehr als blosse Stadien eines