28 OCTOBER 1938, Page 16

CZECHEN-BOHMEN-DEUTSCHE

[Von einem deutschen Korrespondenten]

DER Umbau der Czechoslovei erfordert auch eine Umstellun: der Begriffe und eine Umbenennung von iigennamen, vo.. Bergen, Fliissen, Stadten, aber auch von Menschen. Wer in diesem schonen und unghicklichen Lande geboren wurde. weiss heute burn noch, was er eigentlich ist. Gehtirt er den Bohmen, zu den Czechen, zu den. Deutschen. Is t er jiidischer Abstammung, so tritt sogar noch eine vierte Frage hinzu. Wohl dem, der tot ist ; er muss sich fiber seine Zugehorigkeit nicht mehr den Kopf zerbrechen.

Fiir manche wird durch die Ahnen-und Sippenforschune der Nazis geSorgt werden ; aber das wird nur fur die reinen Arier gelten. Wer aber kiimmert sich urn diejenigen Person- lichkeiten, die jiidischer Abstammung sind and die in den heute strittig gewordenen Gebieten geboren wurden. Die bohmische Kuhur existiert nicht mehr, die czechische wurde verstiimmelt, die deutsche will sie nicht haben und die jiidische kann mit ihnen als Dissidenten niclits anfangen. Sie selbst sind bereits tot und daher personlich theses Streites enthoben. Aber sie haben in ihrem Werk der Menschheit solche unermessene Schatze gegeben, dass die Nachwelt ein Recht, ja die Pflicht hat, ihrer zu gedenken. Diese drei Genien der Menschheit haben eines gemeinsam : sie sind in Bohmen geboren und in ihrer Jugend nach Wien gekommen, wo sie lebten, lehrten, litten und starben. Das Bohmen ihrer Kindheit war ein merkwiirdiges Reich ; es hatte einen Konig, aber diescr Konig lebte nicht in seinem Reich, sondern in einem anderen, wo er Kaiser war. Das Land hatte seine eigene Sprache, aber diese Sprache war verachtet, in der Armee and im Amt sprach man deutsch. Der Adel bemiihte sich, deutsch zu sein, das Biirgertum auch, nur das Volk hiek an der Sprache seiner Vater fest. Spiker wurde dieses,Btihmen die Republik der Czechoslovakei, wurde gross und angesehen in der Welt und hatte einen der edeisten Manner unserer Zeit als Fiihrer. Dann starb dieser Mann und mit ihm verging such _ theses Reich. Und these Manner, von denen wir berichten wolleni sind auch schon tot, sie haben die Schandung liver ersten Heimat nicht mehr erlebt.

Der erste war ein Ingenieur. Er wurde vor genau hundert Jahren geboren, in der bOhmischen Stadt Kolin, etwa eine Stunde ostlich von Prag. Dieser Mann wohnte nach als Knabe im Ghetto, spater kam er nach Prag, dann nach Wien, erfand verschiedene technische Dinge, schrieb fiber philoso- phische, religiose, juristische, Themen, erfand das Problem der elektrischen Kraftiibertragung und ein soziales System, in dem kein Mensch hungem musste, hatte aber selbst zeit- lebens schwere materielle Sorgen und starb in seinem 83. Lebensjahre, fast schon zu Lebzeiten eine legendare Gestalt und heute von einer duinmen, schnell lebenden und undank- baren Generation fast vergessen.

Der zweite wurde in Gitschin geboren, einem -Sradtchen am Siidhang des Riesengebirges, als Sohn eines Fabrikanten, ham friih nach Wien, begann als Zwanzigjahriger eine Zeit- schrift herauszugeben, schrieb sie fast vierzig Jahre lang fast ganz allein, indem er zu den Ereignissen des Tages Stellung nahm, als ein grosser, international fiihlender Mensch mit einem nie erlahmenden Rechtsbewusstsein, ein Anwalt unter- driickter Menschen und Viilker, ein grosser Dichter, der Gedichte, Essays, Dramen schuf, Shakespeare iibersetzte und verlebendigte, den Krieg entlarvte und der am Dritten Reich gestorben ist, knapp sechzig Jahre alt.

Der dritte in dieser Reihe war ein Musiker. Er kam in Kalischt, einem kleinen bohmischen Dorf zur Welt, besuchte in Prag die Schule, kam als Yingling nach Wien, wurde Kapellmeister in Budapest, Hamburg, Wien, leitete hier die Flofoper, ging als Gastdirigent auf Reisen und schrieb daneben seine Werke, zwei Oratorien, etwa drei Dutzend Lieder, meist aus der Welt des " Knaben Wunderhom " und neun Symphonien, die in Deutschland verboten und in England unbekannt sind. Als Fiinfzigjahriger ist er gestorben und wie die beiden anderen in Wien begraben worden. Aber wir wissen nicht, ob ihre Graber noch erhaken sind oder ob such diese letzte Spur ihrer Erdentage fik these Generation verschwunden ist.

Urn so starker leben sie in unserer Erinnerung, in unserer Liebe, diese Biirgen und Burger einer besseren Menschheit. Josef Popper, Karl Kraus, Gustav Mahler.