29 JUNE 1934, Page 12

SCHULE ODER VEREIN ?

[VON EINEM DEUTSCHEN KORRESPONDENTEN]

BETRACHTEN wir eimnal den Stundenplan des Schul- jungen Franz Muller ! Er hat Unterricht Montag, Dienstag, Mittwoch, Freitag von 8.30 Uhr bis 2 Uhr nachmittags ; Donnerstag und Samstag von 8.30 bis 1 Uhr nachmittags. Ausserdem am Montag nachmittag von 6-7 Uhr 'Musik, Dienstag von 5-7 Uhr Turnen, Donnerstag von 4-7 Uhr Werkunterricht, Freitag von 5-7 Uhr Zeichnen und von 8-10 Uhr abends Heimabend. Sodann drei Sonntage imMonat und zwei Sonnabende noch Fahrt oder Dienst. Dazu kommen Banndienst, Besich- tigungen, ferner alle drei Wochen Scharabend, Extra dienst mid in den Ferien Fahrten.

Fritz Meyer, cin anderer Hitlerjunge, hat vier mal in der Woche fiinf Stunden und zwei mal sechs Stunden Schulunterricht, dazu Montag, Dienstag, Mittwoch von 8-10 Uhr abends Hitlerjugend-Dienst oder Turnen, Donncrstag von 8-10 Uhr Kameradschaftsabend, Frei- tag von 4-5 Sehulsport. Jeden zweiten Sonnabend Theater der Schule, jeden Sonntag von 10-12 Hitler- jugend-Dienst und jeden zweiten Sonntag Ausmarsch.

Es ist daher zu verstehen, dass gegenwartig in der deutschen Presse ern grosser Kampf zwischen vier Parteicn, namlich Schule, Kirche, Elternhaus, Hitler- jugend ausgefochten wird, der trotz der scharfen Zensur manchmal heftige Formen annirnmt und der sich in crster Linie urn die Seele, das heisst um die freie Zeit von Fritz Meyer und Franz Muller bewegt.

Am bekirinmertsten ist die Kirche, sowohl die evan- gelischc wie die katholische, wahrend die judische iibcrhaupt nichts zu sagen wagt ; die Kirche sieht sozu- sagen alle ihre religiosen Felle davonschwimmen und weiss nichta gegen die inuner starker zupackende Konkurrenz der Hitlerjugend zu sagen. Das heisst, sic weiss es schon, aber sic wagt es nicht so recht, da der Kulturkampf, nicht zuletzt urn die Jugend, immer scharfere Formen annimt. So steht es jetzt in der evangelischen Kirche so, dass der Montag-und Freitag-Nachmittag dem evangelischen Jugendwerk zur Verfugung stehen soli, zweimal im Monat mussen die Konfirmanden am Gottesdienst teilnehmen, et-en so oft am Jugendgottesdienst. Alle evangelischen Kinder miissen bis zur Konfirmatibn am Kindergottes- dienst teilnehmen.

Die Hitlerjugend steht auf dem Standpunkt, dass man einerseits Elternhaus, Kirche, Schule und Hitlerjugend zwar als gleichberechtigt ansehen soil, anderseits aber zweifelt sic an der Eignung der ersten Gruppen, den jungen Deutschen in " wirklich " nationaLsozialistischern Geiste zu erziehen. Die Hitlerjugead halt weder die katholische noch die protestantische Kirche far reif genug, deutsche Nationalsozialisten zu formen. Sic halt noch immer manche Eltern fiir liberalistisch und " sogar " marxistisch beeinflusst.

Die Schule halt_ sich an den Lehrplan und versucht durch Kompromisse gegeniiber der Hitlerjugend und durch Energie gegenfiber den Eltern eine gewisse Linie des geringsten Widerstandes einzuhalten.

Die Eltern jammern in den " Offenen Briefen " an Zeitungeri Taut oder versteckt, dass sic von ihren Kindem iiberhaulit nichts mehr haben. Sie konneri es nicht verstehen, dass sich zwischen Eltern mid Kindern so vide Gruppen einschalten, die auf ihr eigen Blut und Leben Beschlag legen.

Und die Jugend ?