4 AUGUST 1939, Page 17

HEINRICH ZILLE

[Von einem deutschen Korrespondenten]

WER ihn kannte, hat ihn geliebt. Wer ihn liebte, wird ihn Hie vergessen, den Vater Zille, den Pinselheinrich, der heute vor zehn Jahren gestorben ist, recbtzeitig genug, urn das Dritte Reich nicht mehr erleben zu mfissen.

Heinrich Zille, das Urbild des Berliners, stammte nicht aus Berlin. Er wurdc geboren in Radeburg, einem kleinen Stadt in Sachsen im Jahre 1858 als Sohn eines Schlossers, bcgann seine Lehrlingszeit als Lithograph, absolvierte als Zwanzig- jahriger seine Milithrzeit nahe dem Zuchthaus Sonneburg and arbeitete dann bei der Photographischen Gesellschaft in Charlottenburg fast dreissig Jahre. Als er dort entlassen wurde, entschloss er sich erst each langem Zureden seiner Freunde, als " freier Kfinstler " zu leben. Er hatte damals bereits in verschiedenen illustricrtcn Blittem, wie " Simpli- zissimus," " Ulk," " Lustige Blitter " Arbeiten veroffentlicht. 1907 erschien sein erstes Bush " Kinder der Strasse," bald darauf " Mein Milljoh." Seine Kunst, die fast nur Typen des Volkes darstellte, fand im wilhelminischen Deutschland nur Ablehnung and Spott. Erst nach dem Krieg begann fiir lint eine etwas bessere Zeit. 1924 wurde er auf Betreiben von Max Liebermann zum Mitglied der Akademie der Kiinste emannt. Mit dem Rulun und den Ehren kamen die Beschwerden des Alters. Er litt an der Zuckerkrankheit, erlebte noch semen siebzigsten Geburtstag und ist bald darauf, am 9. August 1929 gestorben. Sein Name wird heute nur noch im Volke mit Ehrfurcht and Liebe genannt.

Zille war ein grosser Kiinstler und ein noch grosserer Mensch. Seine Kunst, die den Proletarier und auch den Lumpenproletarier, den " fiinften " Stand, in die Kunstge- schichte brachte, ist der Welt der Daumier, Meunier, Steinlen kongenial. Da gibt es keine Beschonigung, kein Vertuschen. Da wird der Mensch dargestellt in alien seinen Erniedri- gungen und Hisslichkeiten, das traurige Produkt einer verfluchten Gesellschaftsunordnung. Von Zille stammt das furchtbare Wort : " Man kann einen Menschen mit seiner Wohnung toten wie mit einer Axt." Immer wieder zeichnete er die Kinder, denen seine ganze Liebe gait, die nicht genug Licht und Luft hatten, und vor allem nicht genug zum Essen. Er zeichnete nicht den Luxus, nicht die gepfiegten Luxus- tierchen der oberen Zehntausend, nicht die maniikierten Madonnen und Nichtstuer. Er zeichnete nur das Volk.

In tausenden und zehntausenden von Bildern hat Hein- rich Zille die Enterbten des Gliickes dargestellt. Es war nicht sein Ann anzuklagen, er stellte dar. Aber die Form dieses Darstellens war schon Anklage genug. In seinen letzten Lebensjahren wurde die Marke "Zille " so etwas wie eine Reklame. Da gab es Zille-Balle und Zille-Filme, Zille-Feiem und Zile-Fiihrungen. Er nannte das selbst den Zille-Rummel, lichelte gutmiitig dazu und lehnte diese ganze Art, in der sich Kitsch, Sentimentalitit und Geschiftsgeist vermengten, energisch ab. Als er alt wurde, schrieb er einmal einem Freund aus seinen entbehrungsvollen Jugendtagen wehrniitig: " Ich merke doch, dass ich alt werde. Fnlher habe ich nur an die andem gedacht, jetzt denke ich manchmal auch an mich. . ."

Zu Weihnachten sass er in seiner kirglichen Stube in der Sophie Charlottenstrasse, vier Treppen hoch and machte kleine Packchen mit etwas Geld fiir die vielen hunderte seiner armen Freunde fertig: " Weihnachten muss ich immer soviel Pickchen verschicken, damit sich die Leute nicht so allein auf der Welt fiihlen."

Ging er mal aus, zum "Nussbaum," dem altesten Wirtshaus von Berlin, oder in die Zille-Klause in einer Seitenstrasse von Unter den Linden, dann hiess es " Pinselheinrich ist da " und sie kamen alle, ihn zu begriissen, der Matrosenkarl und die Schmorjule, der lange Ede and das bucklige Lischen, die letzten Droschkenkutscher und die alten Strassenmadchen und dann wurde er umannt und gefeiert, bis er nicht mehr konnte. Und einer sang darn das Lied " Heinrich heisst er. Ganz Berlin schitzt und liebt und achtet ihn. Keiner hat in diesen Landen so wie er das Volk verstanden. Mach so welter, Heber Meister ; Heinrich heisst er! "

Er bewahrte das Vermichtnis der grossen Berliner Kari- katuristen Glassbrenner und Hosanann ; er war nicht so itzend wie George Grosz und nicht so monumental wie Kite Kollwitz ; seine Kunst 1st verstehend und verzeihend, sie lichelt tinter Tranen. Solange Berlin bestehen wird, wird auch das Walt von Heinrich Zille bestehen.