1 APRIL 1938, Page 16

ARBEITER LESEN

[Von einem deutschen Korrespondenien]

EmEit der grossten und volksreichsten Bezirke von Berlin ist Neukilln. Hier leben fast ausschliesslich Arbeiter, von denen die Mehrzahl im Bezirke selbst in den zahlreichen Fabriken arbeitet. So haben die Werktatigen den Vorteil, nicht allzu viel von ihrer Freizeit fur einen langen Weg von und zur Arbeitsstatte zu verschwenden. Das kommt ihrem Bildungs- bediirfnis entgegen. Nicht alle von den Arbeitern, gelernten wie ungelernten, vergeuden ihre Freizeit bei eintOnigem Sport, miissigem Kartenspiel, kitschigem Kinovergniigen. Der Ber- liner hat schon seit jeher buchstablich Hunger nach guten Biichem gehabt. Leider hat man frillier das nur im geringen Umfange erkannt und noch weniger hat man ihm dabei gehol- fen. Das ist heute, wenigstens im Ausseren, in der Quantitat and in der Organisation, besser geworden.

Die Volksbiicherei von Neukoln ist in einem Nebentrakt des stadtischen Bades untergebracht ; so ist in tuunittelbarer Nachbarschaft fur geistige und kOrperliche Bediirfnisse gesorgt. Durch einen schonen Pfeilerhof, geschmilckt mit einem Erwin- en, gelangen die achttausend Leser dieser Biicherei zu ihren schweigenden Schatzen. Rand 42.000 Bande warten darauf, gelesen zu werden. Frillier waren Biicher wie Beamte schlecht und nur notdilrftig untergebracht. Der biicherhungrige Mann, der von der Strasse kam, wurde schnell abgefertigt, man fragte nicht viel nach seinen Wiinschen. Denn man verstand es damals nicht, dass das Sprichwort " Zeit ist Geld " nicht fiir den BUcherleser passt. •Ileute wird der Leser der Volksbiicherei sach-und fachgemass beraten. Natiklich wird dabei versucht, ihn such weltanschaulich zu beeinflussen. Die " Wehrwissen- schatt," wie die Abteilung der Kriegs-und Soldatenbilcher auch offiziell genannt wird, steht mit an der Spitze der angeford- erten oder eropfohlenen Bucher. Hier schmOkert eine Jugend, deren Ideal auch heute noch der " frischfrohliche " Krieg ist. Schuljungen bekommen hier ihre bunten Soldaten- bOcher, aus denen sie sich Muster fiir ihre Schiilerzeichnungen heraussuchen. Aus den BUchem, die von der " Stadtbiblio- thek der Reichshauptstadt " entlehnt werden, suchen sie sich aus, was sie spater einmal werden wollen oder werden milssen : Flieger, Kanonier, Pionier, Reiter, Schiit2e, TanIcfiihrer . . .

Diese Kriegs-und Soldatenbiicher werden heute stark be-. getut. Daneben werden aber auch Biicher fiber Technik angefordert. Der Berliner Arbeiter hat immer schon einen Hang zum Basteln gehabt ; er baut seinen Radio-Apparat, sein Paddelboot, seinen Schlitten, sein Aquarium nach Vorlagen, die er in seiner Volksbiicherei sucht and auch immer findet. Daneben interessieren den werktatigen Leser besonders Memoirenwerke aus dem letzten Weltkrieg, Romane und Berichte aus dem Schiltzengraben, aus der Kriegsgefangen- schaft, aus dem Spionagedienst. Man will wissen, wie es war, wie es wieder werden wird. Politische Bilcher sind auch noch immer stark umworben. Man muss manchmal lange warten, bis man einen solchen Band, nach langer Vorbestellung, endlich erhalt. Die Biicher von " Blut und Boden," die sogenannte " Blubo "-Literatur werden heute nicht mehr so stark verlangt wie zu Beginn des Dritten Reiches. Hier kiinnen die Voiks- bibliothekare eine Ermiidung des Interesses feststellen.

Romane and Werke der schonen Literatur werden mehr von Frauen gelesen, die aber iibmaschenderweise nur zehn von hundert Lesem umfassen. Daflir sind von hundert Entleihern von Gedichtbanden rund achtzig Prozent weibliche Leser. Auf der Lesekarte sind Alter, Geschlecht and Stand der Leser vermerkt. So kann man schnell feststellen, class die Leser der zwanzig Exemplare von Grimm " Volk ohn,.1 Raum " zur Halfte Arbeiter, zur Halfte Beamte and Studenten sifid. Neben Hans Grimm wird Hamsun oft verlangt ; es gibt Leser, die plarunassig eines nach dem anderen seiner Werke leben. Die Klassiker sind etwas in den Schatten getreten. Ebenso die Bucher fiber Naturwissenschaften, die friiher eifrig verschlungen wurden. Audi hier haber. Geschichte und Politik alle anderen Gattungen der Literati) c verdrangt. Der Arbeiter geht mit dem .zntliehenen Buch unglaublich vorsichtig urn ; fast jeder der Leser bindet sich das entliehene Buch noch einnial in Schutzpapier ein and bringt es auch im Umschlag wieder. Denn die Leserschaft dieses Arbeiter- bezirkes liebt das Buch ; seinen Inhalt wie seine Ausstammg. Darum sind die Bibliothekare dieser Biicherei auf ihre Kund- schaft besonders stolz.