DANZIG PRIVAT
[Von einem deutschen Korrespondenten] Ix diesen Tagen der Qual mag es vielleicht ein wenig entspannend sein, einen kurzen Erholungsausflug in Geschichte und Geographic zu unternehmen und fur einen Augenblick die Stadt der Entscheidung mit den Augen eines Privatmannes zu betrachten.
In unserer Kindheit war diese Stadt mit einem geheimnis- vollen Reiz umgeben. In jedem Jahre kam namlich von dort, kurz vor Weihnachten ein nettes Kistchen an, gesandt vom Onkel Otto. In der Kiste war regelmassig eine grosse bauchige Flasche, gefiillt mit ciner Fliissigkeit, in der winzige Goldplattchen herumschwammen. Diese Flasche, auf dem Schildchen stand "Danziger Goldwasser," gehorte unserem Papa. Wenn wir von diesem Wasser zu trinken begehrten, hiess es immer: " Bis Du erst grosser bist !" Als wir dann " grosser " waren, bekamen wir ein Schliickchen zu kosten. Wir verbrannten uns scheusslich den Mund, denn das Gold- wasser war ein Schnaps. Aber wir trtisteten uns rasch mit dem Inhalt der anderen Packchen, die auch in der Kiste waren, fiir jedes Kind eine Schachtel mit herrlichen Marzi- pan. Die Freude wahrte lange ; an jedem Sonntag nach dem Mittagessen bekam jedes Kind ein Stuck aus seiner Schachtel : ein Bretzel, eine Kirsche, ein Schinken, alles gemacht aus Marzipan.
Und dann gab es noch ein Lied, oder besser gesagt ein Abzahlreim, der lautete : " Eins . . . (and alle Zahlen Ins) . . . zwanzig, Die Franzosen zogen nach Danzig, Danzig fing an zu brennen, Die Franzosen fingen an zu rennen, Ohne Striimpf ' and ohne Schuh' Liefen sic der Heimat zu! "
Eine Erinnerung an das Jahr 1812 ; was wir aber damals so um 1912 noch nicht wiissten.
Wenn wir uns bei dem Onkel Otto, den wir nie zu Gesicht bekamen, bedankten, bekamen wir eine schone Ansichtskarte aus Danzig, ein Bild von der Marienkirche, vom Krantor, vom Rathaus, vom Steffenshaus auf dem Langen Markt, vom Fischereihafen mit dem Turm der alten Ordensburg, vom Strand des Seebades Zoppot und andere.
Spater lernten wir mehr von Danzig, dass dort der grosse Philosoph Arthur Schopenhaucr geboren wurde, der die Welt als blosse Vorstellung erklarte, dass dort vor dreihundert Jahren der Dichter Martin Opitz gestorben war, nachdem er einem pestkranken Bettler eine Gabe gereicht hatte. So batten wir von dieser fernen Stadt im Norden eine etwas merkwiirdige Vor- stellung, gemischt aus Onkel, Schnaps, Marzipan, Philosophic und Pest.
In den Geschichtsstunden lernten wir dann ein paar mehr
konkrete Dinge. Vor tausend Jahren hatte Danzig den Namen Gidanie und war die bliihende Haupstadt von Pomerellen. Danzig gehorte dann den Polen und wurde 1309 Eigentum des Deutschen Ordens. Fiinfzig Jahre spater trat die Stadt dem Bund der Hansa bei. In dieser Zeit entstanden neue Stadtteile, die Rechtstadt, Jungstadt, Vorstadt. Im 15. Jahrhundert trennte sich Danzig wieder von dem Deutschen Orden, weil dieser den Landstanden alle Rechte verweigerte und stcllte sich unter den Schutz Polens. Es wurde ein Freistaat und gab sich in der sogenannten Danziger Willkiir eine eigene Gerichtsbarkeit. Nach vielem Kriegen mit den Polen, Schweden, Darien, Russen und Sachsen kam Danzig bei der zweiten Teilung Polens 1793 an Preussen. 1807 wurde es von den Franzosen erobert und erst nach sieben Jahren wieder von Preussen besetzt. Nach dem Kriege erhielt Danzig wieder den Charakter eines
Freistaates, den es bis zur Stunde noch hat.
Mit semen zwanzig Bastionen und den befestigten Hiigeln war Danzig einst eine michtige Festung. Spater erfreute es sich eines schonen Friedens; auf den Bastionen, die each Tier- namen, Bar, Einhorn, Kaninthen, Lowe, Ochs, Wolf etc. hiessen, erhoben sich Fabriken, auf den Forts wohnten Stu- denten. Der Artushof, friiher Sitz der Hansa und Versarrun- lungshaus der Gilden, spater dic Beirse, 1st heute das Zentrtun der Nazi-Meetings. So hat sich vicles geandert. Der Onkel Otto ist schon lange tot; Goldwasser, Marzipan und Kinderreim sind nur noch verblasste Jugenderinnerungen. Die Gegen- wart, laut and drohnend, 1st hart genug. Und wie auch die Zukunft wird, sic wird bum frOhlich sein.